Titel
Social Mendelism. Genetics and the Politics of Race in Germany, 1900–1948


Autor(en)
Teicher, Amir
Erschienen
Cambridge, UK 2020: Cambridge University Press
Anzahl Seiten
280 S.
Preis
£ 26.99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Uwe Kaminsky, Institut für Geschichte der Medizin und Ethik, Charité Berlin

Die Arbeit von Amir Teicher handelt von der Bedeutung der Lehre des Mönches Gregor Mendel, dessen Entdeckung der Vererbungsgesetze die Biologie stark prägte. „The present study argues that references to Mendel, by Hitler as well as by others, were much more than ‚a pun‘, and that they often testified to the internalization of a particular way of thinking that was enshrined by Mendelian theory and that needs to be acknowledged, explored and analyzed, not dismissed.“ (S. 4)

Dass die Bezüge auf Mendel mehr als ein Wortspiel („pun“) gewesen seien, wird vom Autor mit der von ihm prominent gemachten Bezeichnung des „Mendelismus“ unterstrichen, der für die spätere Durchsetzung des nationalsozialistischen Rassismus eine große Bedeutung gehabt habe. Er wertet Mendels Theorie der Vererbung gegenüber der ansonsten in der Forschung betonten Theorietradition des Sozialdarwinismus auf.1 So habe der „Mendelismus“ genetisches, soziales und politisches Denken insbesondere in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Deutschland und auch international, so seine Verweise im Ausblick des Buches, bestimmt. Dieser habe sich von einer wissenschaftlichen Methode in der Biologie zu einer sozialen Theorie entwickelt. Teicher will damit die bisherigen Narrative der Eugenik und des Sozialdarwinismus auf ihre vermeintlich naturwissenschaftliche Begründung zurückführen und diese selbst als ideologisch kennzeichnen.

Teicher stellt zunächst die Mendelschen Gesetze und ihre Übertragung von der Pflanzenbiologie zur Humanbiologie für den Zeitraum 1865 bis 1913 vor. Insbesondere im Feld der Vererbbarkeit psychischer Krankheiten fand der „Mendelismus“ Anklang. Ernst Rüdin in der Psychiatrie und Eugen Fischer in der Anthropologie beförderten diese Entwicklung. In einem zweiten Kapitel wird das „Maturing“ des Mendelismus in den Jahren von 1913 bis 1933 beschrieben. Die Ablehnung in der Genealogie und die Umarmung durch die Psychiatrie wie die Anthropologie werden von Teicher nachgezeichnet. Die „Reinheit“ der Rasse und die nationale Erneuerung waren die Themenfelder, in denen es zum einen um die „rezessive“, weil unsichtbare, Vererbung, zum anderen um die vermeintliche Bedrohung durch Juden und schließlich auch um die vermeintliche „Rassereinheit“ „deutscher“ Bauern ging.

Die von Ernst Rüdin identifizierten „Erbkreise“ beruhten auf den Mendel‘schen Gesetzen und waren eine wissenschaftliche Legitimation für das nationalsozialistische Zwangssterilisationsgesetz. Dieses wurde auch durch das Erlernen der Mendel‘schen Gesetzen in der Schule in der Bevölkerung gerechtfertigt und propagiert. Auch mit Blick auf den rassischen Antisemitismus weist Teicher einen Weg zu den Nürnberger Gesetzen und der Shoa nach. Das „Ausmendeln“ vermeintlich „jüdischer Gene“ galt als Ziel eines Projektes, das die Diagnose einer „Rassenzugehörigkeit“ erlauben sollte. In einer Nachschau befasst sich Teicher schließlich mit dem Fortwirken der Rassenhygiene nach 1945 in Deutschland und im internationalen Kontext wie auch mit der Entpolitisierung des „Mendelismus“ im internationalen Rahmen.

Teicher verweist auf eine wichtige „wissenschaftliche“ Basis des nationalsozialistischen Rassismus. Er zeigt, dass Mendels Gesetze erst nachträglich mit rund dreißig Jahren Verzögerung in einer bestimmten historischen Situation formuliert wurden und zwar in zwei Varianten. Laut einer ersten Traditionslinie gebe es nur zwei Gesetze: 1. der Segregation der Erbmerkmale (Spaltungsregel: es vererben sich nur die Merkmale von Vater oder Mutter) und 2. der Unabhängigkeit der Merkmale voneinander. In einer anderen Tradition gibt es drei Gesetze: 1. Uniformitätsregel, wonach alle Nachkommen von reinen Typen immer gleich aussehen würden, 2. Spaltungsregel, wonach bei der Kreuzung von Hybriden sich die Merkmale ihrer Eltern nach bestimmten Anteilen vererben würden und 3. Regel der Selbstständigkeit der Merkmale. Beide Traditionsvarianten unterschieden sich darin, dass die erste Traditionslinie die Trennung von Genen im Rahmen der Vererbung behauptete, wohingegen die zweite Variante sich auf das sichtbare Ergebnis von Vererbung bezog. Bis in die 1930er-Jahre konstatiert Teicher eine große Varietät in der Interpretation der Mendel‘schen Gesetze oder Regeln. Die weiten Interpretationsspielräume machten die Bezugnahme verschiedener Wissenschafts- und Ideologietradtionen zu Beginn des 20. Jahrhunderts möglich und damit auch den Erfolg des „Mendelismus“ aus. Teicher führt die Forschungen von Eugen Fischer im Feld der „Rassenanthropologie“ und Ernst Rüdin im Feld der „Psychiatrie“ als Beispiele detailliert vor Augen. So war die Heranziehung der Mendel‘schen Gesetze zur Vermittlung der Nürnberger Gesetze offensichtlich, doch reicht dies nicht für deren Begründung.

Auch wenn Teicher wichtige Aspekte der bisherigen Forschung ergänzt, muss kritisch angemerkt werden, dass der NS-Rassismus sich nicht auf einen „Sozialen Mendelismus“ reduzieren lässt. Im Buch wird gezeigt, dass „Reichsbauernführer“ Walther Darré nach 1933 an eine Sammlung der guten Gene der „nordischen Rasse“ für eine Wiederauferstehung Deutschlands dachte, doch wie stark die Position Darrés im nationalsozialistischen Ämterchaos war, wird nicht beantwortet.

Teicher benutzt zeitgenössische Literatur, einzelne Aktenfunde und bezieht viel Forschungsliteratur in seine Studie ein. Er gibt Anlass zu einem neuen Nachdenken über die Erblichkeitsforschung und ihren Einfluss auf verschiedene Wissenschaftsfelder. Die zum „Mendelismus“ erklärte Theorierichtung erscheint jedoch etwas überstrapaziert. Vielfach verweist Teicher auf längst erforschte Traditionslinien der „Rassenanthropologie“ und der Eugenik, die nur eben bisher nicht mit dem von Teicher geprägten Begriff „Mendelismus“ bezeichnet worden sind. Teichers „Kronzeugen“ für seine These der Durchsetzung der Erblichkeitsforschung, Eugen Fischer und Ernst Rüdin, waren nicht die alleinigen Vertreter der Fächer Anthropologie und Psychiatrie. Die Engführung der Traditionslinien hilft zwar dem Argument, doch bildet sie nicht die eigentliche wissenschaftsgeschichtliche Breite der Entwicklung ab. In noch bedeutsamerer Hinsicht gilt dies für die gesellschaftliche Durchsetzung von Erblichkeitstheorien. Dennoch stellt der von Teicher betonte „Mendelismus“ eine interessante Perspektivveränderung dar, die auf die Kommunikation naturwissenschaftlicher Erkenntnisse verweist, die gerade nicht ideologiefrei verläuft. Deren politische Durchsetzung in der Gesellschaft bedarf allerdings weitergehender Studien.

Anmerkung:
1 Siehe zur Durchsetzung in der deutschen Psychiatrie bereits den von Teicher leider nicht rezipierten Aufsatz von Anne Cottebrune, Zwischen Theorie und Deutung der Vererbung psychischer Störungen. Zur Übertragung des Mendelismus auf die Psychiatrie in Deutschland und den USA, 1911–1930, in: Zeitschrift für Geschichte der Wissenschaften, Technik und Medizin 17/1 (2009), S. 35–54. Cottebrune stilisiert den auch von ihr gebrauchten Begriff des „Mendelismus“, oder einer „Mendel‘schen Deutung der Vererbung psychischer Krankheiten“ aber nicht zu einer sozialen Theorie. Für den angloamerikanischen Kontext vgl. den frühen Aufsatz von David Barker, The Biology of Stupidity: Genetics, Eugenics and Mental Deficiency in the Inter-War Years, in: The British Journal for the History of Science 22/3 (1989), S. 347–375.

Redaktion
Veröffentlicht am
Autor(en)
Beiträger
Redaktionell betreut durch